BUNDESSOZIALGERICHT
Im Namen des Volkes
Urteil
in dem Rechtsstreit
Az: 1 RK 23/96
Kläger und Revisionskläger,
Prozeßbevollmächtigte:
gegen
Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse,
73529 Schwäbisch Gmünd, Gottlieb-Daimler-Straße 19,
Beklagte und Revisionsbeklagte.
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung
am 18. Februar 1997 durch den Präsidenten von W. ,
die Richter S. und Dr. D. sowie die ehrenamtliche
Richterin D. und den ehrenamtlichen Richter H.
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom
26. September 1996 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
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Gründe:
I
Der 1938 geborene Kläger leidet an einer Niereninsuffizienz, derentwegen er sich seit
Dezember 1993 zwei- bis dreimal wöchentlich einer Dialysebehandlung unterziehen muß.
Für die Fahrten zwischen seiner Wohnung in Wilhelmshaven und dem Dialysezentrum in
Jever benötigt er ein Taxi. Die beklagte Ersatzkasse übernahm aufgrund der Härtefallre-
gelung des § 62 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) für 1994 den die Bela-
stungsgrenze übersteigenden Teil der notwendigen Fahrkosten. Eine darüber hinausge-
hende, generelle Kostenübernahme nach Maßgabe des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V lehnte
sie ab, weil die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt seien (Bescheid vom
9. März 1994; Widerspruchsbescheid vom 9. September 1994).
Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht
(LSG) hat im Urteil vom 26. September 1996 ausgeführt, auf § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4
SGB V lasse sich der geltend gemachte Anspruch nicht stützen. Diese Bestimmung sehe
bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung eine Kostenübernahme nur für den
Fall vor, daß dadurch eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Kranken-
hausbehandlung vermieden werde. Dialysebehandlungen würden aber regelmäßig ambu-
lant durchgeführt, so daß der angesprochene Gesichtspunkt bei ihnen nicht zum Tragen
komme. Da die Regelung in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V vom Gesetzgeber bewußt eng
gefaßt worden sei, scheide auch eine analoge Anwendung der Bestimmung auf andere,
vom Wortlaut nicht erfaßte Tatbestände aus. Das Gleichbehandlungsgebot des Art 3
Abs 1 Grundgesetz (GG) werde durch die Nichteinbeziehung der Dialysebehandlungen in
die gesetzliche Regelung nicht verletzt.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, die Dialyse müsse im Hinblick auf den damit
verbundenen zeitlichen, personellen und medizinisch-technischen Aufwand einer teilsta-
tionären Behandlung gleichgesetzt werden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete,
daß bei Dialysepatienten ebenso wie bei anderen Schwerkranken die mit der medizini-
schen Versorgung in Zusammenhang stehenden Fahrkosten von der Krankenkasse ge-
tragen werden.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. September 1996 und
des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte
unter Abänderung des Bescheides vom 9. Mai 1994 in der Gestalt des Wider-
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spruchsbescheides vom 9. September 1994 zu verurteilen, ihm den Eigenanteil an
den Fahrkosten zu Dialysebehandlungen ab April 1994 zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Zwischen den Beteiligten besteht Übereinstimmung, daß die Beklagte die Kosten des
Klägers für Fahrten zur Dialysebehandlung nach der Härtefallregelung des § 62 Abs 1
SGB V insoweit zu tragen hat, als sie die dort festgelegte individuelle Belastungsgrenze
übersteigen. Eine darüber hinausgehende, generelle Übernahme dieser Kosten, wie sie
der Kläger begehrt, läßt das geltende Recht nicht zu. Die klageabweisenden Urteile der
Vorinstanzen sind deshalb zu bestätigen.
Zu der Frage, ob und inwieweit die durch eine Krankenbehandlung verursachten Fahrko-
sten zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, trifft das Ge-
setz eine differenzierende Regelung: Nach der Grundnorm des § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V
sind diese Kosten von der Krankenkasse nur bei bestimmten, in der Vorschrift genannten
Sachverhalten zu tragen, während sie im übrigen dem Verantwortungsbereich des Versi-
cherten zugerechnet werden. Demgegenüber hat die Kasse nach § 60 Abs 2 Satz 2
SGB V unabhängig von der Art der Leistung einzutreten, wenn die Kosten den Versicher-
ten unzumutbar belasten würden, sei es, daß er wegen seines geringen Einkommens
überhaupt keine Eigenleistungen erbringen kann (§ 61 SGB V) oder daß die entstehen-
den Aufwendungen eine von der Einkommenshöhe abhängige Grenze der zumutbaren
Eigenbelastung überschreiten (§ 62 SGB V). Gemäß § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V übernimmt
die Krankenkasse die einen Betrag von 20,00 DM je Fahrt übersteigenden Fahrkosten bei
Fahrten zu einer stationären Behandlung (Nr 1), bei Rettungsfahrten (Nr 2), bei Kranken-
transporten (Nr 3) sowie bei Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung einschließ-
lich einer Behandlung nach § 115a oder § 115b SGB V, wenn dadurch eine an sich ge-
botene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt
wird oder diese nicht ausführbar ist (Nr 4).
Da die Dialysebehandlungen des Klägers ambulant durchgeführt werden und keinen
qualifizierten Krankentransport iS der Nr 3 erfordern, kommt als Grundlage des geltend
gemachten Anspruchs allein § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in Betracht. Wie das LSG
zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift jedoch nicht erfüllt;
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denn die Dialyse gehört nicht zu den Leistungen, durch die eine "an sich gebotene"
stationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird. Der Senat braucht
nicht zu entscheiden, ob mit dieser Wendung nur Ausnahmefälle erfaßt werden sollen, in
denen eine aus medizinischer Sicht eigentlich notwendige stationäre Behandlung aus be-
sonderen Gründen ambulant vorgenommen wird (so wohl Krauskopf, Soziale Krankenver-
sicherung und Pflegeversicherung, Stand Juni 1996, § 60 SGB V RdNr 16), oder ob dar-
unter, wofür die Einbeziehung der Leistungen nach § 115b SGB V spricht, auch solche
Behandlungen fallen, die zwar bisher (noch) überwiegend stationär erbracht werden,
grundsätzlich aber auch ambulant durchführbar sind und durchgeführt werden. Nachdem
Dialysebehandlungen regelmäßig ambulant erbracht werden und allenfalls beim Auftreten
von Komplikationen eine stationäre Aufnahme nach sich ziehen, werden sie vom Rege-
lungsgehalt des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V in keinem Fall erfaßt.
Mit Recht hat es das LSG auch abgelehnt, § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zur
Dialysebehandlung analog anzuwenden. Eine Erstreckung des Anwendungsbereichs der
Vorschrift auf weitere, nicht ausdrücklich genannte Fälle einer ambulanten Behandlung
käme nur in Betracht, wenn die getroffene Regelung gemessen an den mit ihr verfolgten
Zielen unvollständig wäre und durch die Einbeziehung ähnlicher, vom Gesetzeszweck
ebenfalls erfaßter Sachverhalte ergänzt werden müßte. Für die Annahme einer solchen
planwidrigen Gesetzeslücke ist indessen nach dem Inhalt der Vorschrift und der ihr
zugrundeliegenden Regelungsabsicht kein Raum.
Bereits die Tatsache, daß das Gesetz die Übernahme der durch eine medizinische
Behandlung verursachten Fahrkosten durch die Krankenkasse auf bestimmte, genau
umschriebene Sachverhalte beschränkt und den Versicherten im übrigen in § 60 Abs 2
Satz 2 SGB V auf die Härteklauseln der §§ 61 und 62 SGB V verweist, macht deutlich,
daß die Regelung Ausnahmecharakter hat und die privilegierten Tatbestände abschlie-
ßend erfassen will. Dies wird durch die Rechtsentwicklung bestätigt. Während der
frühere, am 31. Dezember 1988 außer Kraft getretene § 194 Abs 1 Reichsversicherungs-
ordnung (RVO) noch generell die Erstattung der im Zusammenhang mit einer Leistung
der Krankenkasse erforderlichen Fahr-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten ein-
schließlich eines notwendigen Gepäcktransports vorgesehen hatte, hat das Gesundheits-
Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) die Ansprüche auf Reise-
kostenerstattung drastisch eingeschränkt. Seither werden nur noch Fahrkosten und auch
diese nur in besonderen Fällen übernommen. Die Fahrkosten zu einer ambulanten
Behandlung hat der Versicherte grundsätzlich selbst zu tragen. Ausgenommen hiervon
waren nach der ursprünglichen, auf dem GRG beruhenden Fassung des § 60 Abs 2
Satz 1 SGB V nur Rettungsfahrten zum Krankenhaus und Krankentransporte in einem
speziellen Krankentransportfahrzeug. Der Gesetzgeber war der Auffassung, daß
einerseits die starke, durch eine weitgehend unkritische Verordnung von Krankenfahrten
seitens der Ärzte und Krankenhäuser mitverursachte Kostenbelastung der Kranken-
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kassen finanziell nicht länger vertretbar, andererseits angesichts des hohen Grades der
Motorisierung und des zumindest im städtischen Bereich dichten Netzes öffentlicher Ver-
kehrsmittel eine umfassende Kostenübernahme auch nicht zwingend geboten sei
(Regierungsentwurf zum GRG, BR-Drucks 200/88 S 186 Begr zu § 68). Das
Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266) hat den
Katalog der zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung zählenden
Fahrkosten um den Tatbestand des jetzigen § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V erweitert,
ohne das der Vorschrift zugrundeliegende Regel-Ausnahmeprinzip aufzugeben. Ange-
sichts dessen ist nicht zweifelhaft, daß die Aufzählung der für eine Kostenerstattung in
Frage kommenden Fälle abschließend sein soll.
Der Annahme einer unbeabsichtigten Regelungslücke als Voraussetzung für eine analoge
Anwendung des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V auf Fahrten zu Dialysebehandlungen steht
aber vor allem der aus der Entstehungsgeschichte ersichtliche Zweck dieser Vorschrift
entgegen. Im Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. vom 5. No-
vember 1992 (BT-Drucks 12/3608 S 82) ist ihre Einführung damit begründet worden, daß
dadurch Anreize zur Vermeidung oder Verkürzung einer stationären Behandlung geschaf-
fen werden sollten. Im Unterschied zu den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V ge-
nannten Sachverhalten, bei denen die überdurchschnittliche Höhe der zu erwartenden Ko-
sten den Grund für die Ausnahmeregelung abgibt, ging es bei den Behandlungsfällen
nach Nr 4 darum, das Ziel einer Verlagerung von Leistungen aus dem stationären in den
ambulanten Bereich nicht durch eine Schlechterstellung der ambulanten Behandlungsal-
ternativen bei der Fahrkostenerstattung zu gefährden. Mit Blick auf diese gesetzgeberi-
sche Absicht sind Dialysebehandlungen den in § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB V aufgeführ-
ten Behandlungen von vornherein nicht vergleichbar, so daß es insoweit an einem analo-
giefähigen Tatbestand fehlt. Diese Konsequenz ist im Gesetzgebungsverfahren aus-
drücklich gesehen und gebilligt worden. Der Ausschuß für Gesundheit des Deutschen
Bundestages, auf dessen Beschlußempfehlung vom 7. Dezember 1992 (BT-Drucks
12/3930 S 17) der endgültige Text der Vorschrift zurückgeht, hat in seinem Bericht vom
8. Dezember 1992 (BT-Drucks 12/3937 S 12) wörtlich ausgeführt: "Für Leistungen, die
grundsätzlich ambulant erbracht werden (zB Dialysebehandlungen) bringt die Neurege-
lung keine Änderung gegenüber dem bisherigen Recht, da bei solchen Behandlungen
stationäre oder teilstationäre Krankenhauspflege nicht erforderlich ist und damit auch
nicht vermieden werden kann." Das Problem der Fahrkosten bei Dialysebehandlungen
und allgemein bei ambulanten Dauer- oder Serienbehandlungen war dem Gesetzgeber
demnach bekannt und sollte bewußt nicht in dem von der Revision befürworteten Sinne
einer Einbeziehung dieser Leistungen in die Kostenerstattungsregelung gelöst werden.
Zu Unrecht beruft sich der Kläger für seinen Rechtsstandpunkt auf den Gleichbehand-
lungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Abgesehen davon, daß die gesetzliche Regelung
gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers auch im Wege einer ver-
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fassungskonformen Auslegung nicht auf Fahrten zu Dialysebehandlungen erstreckt
werden könnte (vgl dazu BVerfGE 8, 28, 34; 70, 35, 63 f mwN; Hesse, Grundzüge des
Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl, RdNr 80), gibt es für die
Privilegierung der in § 60 Abs 2 Satz 1 SGB V genannten Tatbestände hinreichende
sachliche Gründe. Daß Dialysebehandlungen auf der einen und die in § 60 Abs 2 Satz 1
Nr 4 SGB V aufgeführten ambulanten Leistungen auf der anderen Seite in bezug auf die
Erstattung von Fahrkosten unterschiedlich behandelt werden, ist angesichts des mit der
genannten Vorschrift verfolgten Zwecks sachgerecht. Der Umstand, daß die Dialyse
wegen der Häufigkeit und der Zeitdauer der Behandlung sowie des erforderlichen perso-
nellen und medizinisch-technischen Aufwands einer teilstationären Behandlung vergleich-
bar sein mag, zwingt auch nicht dazu, sie hinsichtlich der Übernahme von Fahrtkosten
einer stationären Therapie iS des § 60 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V gleichzusetzen. Anders
als in den Fällen des § 60 Abs 2 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB V, in denen es darum geht, den
Versicherten von dem Risiko einer einmaligen hohen Kostenbelastung freizustellen,
verteilen sich die - in der Summe unter Umständen ebenfalls hohen - Fahrkosten bei
Dialysebehandlungen regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Insoweit wird jedoch
durch die Regelung in § 62 Abs 1 SGB V sichergestellt, daß die finanzielle Ge-
samtbelastung des Versicherten durch Fahrkosten sowie Zuzahlungen zu Arznei-,
Verband- und Heilmitteln längerfristig nicht über einen zumutbaren Eigenanteil hinaus an-
wächst. Im Hinblick auf diese Unterschiede und bei Berücksichtigung der
Härtefallregelung ist die Differenzierung zwischen Fahrten zur stationären Behandlung auf
der einen und den auf lange Sicht vergleichbar kostenaufwendigen Fahrten zu einer
ambulanten Langzeitbehandlung auf der anderen Seite verfassungsrechtlich nicht zu be-
anstanden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.