BUNDESSOZIALGERICHT
Beschluß
in dem Rechtsstreit
Az: 11 BAr 47/92
Klägerin und Beschwerdeführerin,
Prozeßbevollmächtigter:
gegen
Bundesanstalt für Arbeit,
Nürnberg, Regensburger Straße 104,
Beklagte und Beschwerdegegnerin.
Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat am 30. September 1992 in Berlin durch den
Vorsitzenden Richter Dr. V.
die Richterin Dr. W. , den Richter Prof. Dr. B. sowie die
ehrenamtlichen Richter H. und G. beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des
Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Dezember 1991 wird bezüglich der erhobenen
Verfahrensrüge als unzulässig verworfen, im übrigen als unbegründet zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
- 2 -
Gründe:
[Abs. 1] Das Landessozialgericht (LSG) hat wie das Sozialgericht (SG) den Anspruch der
Klägerin auf Gewährung höheren Arbeitslosengeldes (Alg) durch die beklagte
Bundesanstalt für Arbeit (BA) verneint.
Die mit einem als Arbeitnehmer beschäftigten Steuerberater verheiratete
Klägerin begehrt, das ihr unter Berücksichtigung der zu Beginn des Jahres 1988
eingetragenen Lohnsteuerklasse V/0 - beim Ehemann war die Lohn-
steuerklasse III/1 eingetragen - nach Leistungsgruppe D gewährte Alg ent-
sprechend der Lohnsteuerklasse III/1 nach der Leistungsgruppe C festzustellen.
Sie hält die von der BA angewandte Regelung des § 111 Abs 2 Nr 1d
Arbeitsförderungsgesetz (AFG) für mit dem Gleichheitsgebot des Art 3 Abs 1
Grundgesetz (GG) unvereinbar und macht geltend, sie werde schlechter behandelt,
wie wenn sie mit einem selbständig tätigen Ehemann verheiratet wäre, weil ihr
dann die begehrte Einstufung in Leistungsgruppe C zustehen würde.
Außerdem rügt sie als Verfahrensmangel Verletzung des rechtlichen Gehörs.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision ist zulässig
(§ 160a Abs 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>), soweit sie die grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache betrifft, nicht hingegen hinsichtlich der
Verfahrensrüge.
[Abs. 2] Soweit die Klägerin Verletzung des rechtlichen Gehörs rügt, ist die Beschwerde
unzulässig, weil die diesen Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen nicht
bezeichnet worden sind (§ 160a Abs 2 Satz 2 SGG).
Der damalige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin ist ordnungsgemäß zur
mündlichen Verhandlung geladen worden. Ort und Zeit der mündlichen Ver-
handlung sind ihm in der Ladung (Terminsmitteilung) mit dem Hinweis darauf, daß
auch im Falle des Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne,
rechtzeitig mitgeteilt worden. Einen besonderen Hinweis, daß eine Erörterung des
Rechtsstreits zwischen dem Gericht und den Beteiligten vorgesehen ist, verlangt
§ 110 SGG nicht; der Begriff der Verhandlung schließt
vielmehr für die Beteiligten eine Erörterung des Rechtsstreits in jeder Hinsicht
ein. Im übrigen hatte die Klägerin ihren Rechtsstandpunkt bereits eingehend in
beiden Instanzen vorgetragen, so daß nicht dargelegt ist, was sie darüber hinaus
noch hätte vorbringen wollen.
-3-
- 3 -
[Abs. 3] Soweit die Klägerin ihre Beschwerde auf die grundsätzliche Bedeutung der
Rechtssache stützt, ist die Beschwerde zulässig.
Nach Auffassung des Senats ist die Klärungsbedürftigkeit der von der Klägerin
aufgeworfenen Rechtsfrage - Verfassungswidrigkeit des § 111 Abs 2 Nr 1d AFG -
hinreichend dargelegt. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage zwar dann nicht
mehr, wenn sie bereits entschieden ist oder durch Auslegung des Gesetzes, evtl
unter Berücksichtigung bereits ergangener Rechtsprechung, eindeutig beantwortet
werden kann. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn - wie hier - neue Gesichtspunkte
vorgetragen werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden
Betrachtung der grundsätzlich bereits entschiedenen Rechtsfrage führen können
und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich
ausschließen (vgl Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, 4. Aufl § 160 RdNr 7 sowie
Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde RdNr 119). Das trifft hier zu.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschlüssen vom 8. März
1983 - 1 BvL 21/80 - (SozR 4100 § 111 AFG Nr 6) und vom 12. Oktober
1983 - 1 BvR 1596/82 - Dreier-Ausschuß - (SozR 4100 § 111 AFG Nr 7) die
Anknüpfung der Leistungsbemessung an das Lohnsteuersystem in § 111 Abs 2
AFG idF des Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetzes (AFKG) vom
22. Dezember 1981 (BGBl I 1497) - die Fassung ist praktisch unverändert
geblieben - als typisierende Regelung bei der Ordnung von Massenerscheinungen
im Hinblick auf die steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten von gemeinsam zur
Lohn- und Einkommensteuer veranlagten Ehepartnern für verfassungsgemäß
erachtet. Das BVerfG hat dabei ausgesprochen, daß niemand allein daraus, daß
einer Gruppe aus besonderem Anlaß besondere gesetzliche Vergünstigungen
zugestanden werden, für sich ein verfassungsrechtliches Gebot herleiten könne,
genau dieselben Vorteile in Anspruch nehmen zu dürfen. Insbesondere sei der
Gesetzgeber bei verheirateten Arbeitslosen nicht gehalten, statt des durch
Arbeitslosigkeit ausfallenden Einkommens die Gesamteinkünfte der Familie als
Anknüpfungspunkt für die Bemessung von Alg zu wählen.
Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß § 111 Abs 2 - damit auch Nr 1d -
AFG in bezug auf alle Ehepaare, die zur Lohn- und Einkommensteuer veranlagt
werden, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Aus den genannten
Entscheidungen ist allerdings nicht sicher zu entnehmen, daß das BVerfG auch
den von der Klägerin angeführten Vergleich zwischen einem Arbeitnehmerehepaar
und einem Ehepaar, das aus einem Arbeitnehmer und einem selbständig Tätigen
besteht, bei seinen Entscheidungen berücksichtigt hat. Deshalb sind die von der
Klägerin unter diesem Blickwinkel angestellten Erwägungen dazu, daß
Arbeitnehmerehepaare gegenüber dem Vergleichspaar benachteiligt werden, neu
- 4 -
und nicht offensichtlich ungeeignet, die bisherige verfassungsrechtliche
Betrachtungsweise in Frage zu stellen. Nach Auffassung des Senats hat die
Klägerin daher die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage ausreichend dargelegt.
[Abs. 4] Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, denn aus dem von der Klägerin
angestellten Vergleich folgt nicht die behauptete Verletzung des Gleichheitssatzes.
Nach Art 3 Abs 1 GG muß der Gesetzgeber die Gleichbehandlung vergleichbarer
Fälle sicherstellen und darf nicht wesentlich Gleiches ungleich behandeln (vgl zB
BVerfGE 55, 72, 88; 65, 104, 112; 75, 382, 393; 79, 1, 17 und zuletzt Urteil vom
7. Juli 1992, NJW 1992 S 2213, 2214). Damit ist ihm jedoch nicht jede
Differenzierung verwehrt, sofern sie in sachlichen Unterschieden eine ausreichende
Stütze findet.
Die Klägerin begehrt die rechtliche Gleichbehandlung wesentlich verschiedener
Sachverhalte.
Die Lohnersatzfunktion des Alg mit existenzsichernder Wirkung ist nur er-
reichbar, wenn die Feststellung und Auszahlung des Alg sobald wie möglich erfolgt.
Dazu ist die Anknüpfung an die bescheinigten Lohnsteuerklassen zweckmäßig. Bei
Arbeitnehmer-Ehegatten kann freilich die Höhe des Arbeitslohnes der Partner im
Laufe eines Kalenderjahres derart wechseln, daß eine Änderung der auf den
Lohnsteuerkarten eingetragenen Lohnsteuerklassen angebracht ist, zumal jeder
der beiden Partner arbeitslos werden kann und Anspruch auf seinem Arbeitslohn
entsprechende Leistungen haben soll. Auch dann kommt zwischen den Eheleuten
ein Steuerklassenwechsel im Rahmen der Steuerklassen III bis V gemäß § 113
Abs 2 AFG in Betracht (vgl dazu BSG SozR 4100 § 113 Nr 4).
Bei dem Arbeitnehmer/Selbständigen-Ehepaar kann dies nicht auftreten. Hier
kann nur der Arbeitnehmerpartner arbeitslos werden und Anspruch auf Alg haben.
Ein Lohnsteuerklassenwechsel kommt wegen der Lohnsteuerpflicht nur eines
Ehegatten nicht in Frage. Bereits aufgrund dieser Unterschiede kommt für die
Vergleichsgruppe eine Regelung, die der für Arbeitnehmer-Ehegatten voll
entspricht, nicht in Betracht. Der in § 113 Abs 2 AFG vorgesehene
Steuerklassenwechsel zwischen Arbeitnehmer-Ehegatten hat nach seinem Sinn
und Zweck allein für diese Ehegatten Bedeutung.
Die Verfassungsmäßigkeit der von der Klägerin beanstandeten Regelung wird
nach Auffassung des Senats nicht dadurch widerlegt, daß für die sich von den
Arbeitnehmer-Ehegatten in sachlicher Hinsicht unterscheidenden Ar-
beitnehmer/Selbständigen-Ehegatten gem § 38b Satz 1 Nr 3a, aa Einkom-
mensteuergesetz (EStG) lohnsteuerrechtlich nur ein feststehender Anknüp-
- 5 -
fungsmaßstab für die Bemessung des Alg des arbeitslosen
Arbeitnehmer-Ehegatten besteht, nämlich seine Lohnsteuerklasse. Zu
berücksichtigen ist, daß in vielen Fällen der Arbeitnehmer dieser Verbindung im
Vergleich zum Arbeitseinkommen des Selbständigen ein höheres Arbeitsentgelt
erzielt. Jedenfalls in diesen Fällen weist die Bemessung des Alg für den
arbeitslosen Arbeitnehmer unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse III im
Vergleich zu Arbeitnehmer-Ehepaaren keinen Unterschied auf. Bei umgekehrten
Einkommensverhältnissen, in denen der Arbeitnehmer-Ehegatte gleichwohl lohn-
steuerrechtlich in die Klasse III eingruppiert wird, ist für die Arbeitsverwaltung im
Zeitpunkt der Entscheidung über das begehrte Alg regelmäßig nicht vorhersehbar,
ob die steuerrechtlichen Regelungen über die Veranlagung von Ehegatten ein
finanzielles Endergebnis herbeiführen, das den Arbeitslosen jedenfalls nicht
wesentlich besserstellt als den arbeitslosen Arbeitnehmer-Ehegatten. Von der
Verwaltung schnell zu bewältigende Massenerscheinungen wie die Gewährung von
Alg verlangen mithin notwendigerweise pauschalierende und typisierende
Regelungen, selbst wenn dabei gewisse Ungleichheiten zwischen verschiedenen
Personengruppen auftreten (BSG Urteil vom 27. Juli 1989 - 11/7 RAr 101/87 -
SozR 4100 § 111 AFG Nr 10). Der aus diesem Grunde erforderliche
Regelungsspielraum ist im Bereich der Leistungsverwaltung besonders weit, weil
die Praktikabilität einfache Maßstäbe für die Leistungsberechnung erfordert. § 111
Abs 2 AFG trägt diesem Erfordernis daher auch bezüglich des mit einem
Selbständigen verheirateten Arbeitnehmers, der Alg beansprucht, Rechnung. Das
Arbeitseinkommen des selbständigen Ehegatten steht nämlich erst nach Abgabe
seiner Steuererklärung und der dann erfolgenden Veranlagung, die in Einzelfällen
mehrere Jahre dauern kann, fest. Erst nach der steuerlichen Veranlagung könnte
damit auch das Verhältnis der Bruttoeinkünfte dieser beiden Ehepartner
berücksichtigt werden. Würde die Arbeitsverwaltung dann mit im Einzelfall
erforderlichen Korrekturen der Höhe des zu gewährenden Alg belastet werden,
wäre damit nicht nur ein unangemessener Verwaltungsaufwand verbunden,
sondern die Korrekturen würden auch zu einer nachträglichen Zweckverfehlung
des Alg führen, das den zuvor tatsächlich erzielten Lohn ersetzen soll (vgl BSG,
Urteil vom 13. November 1980 - 7 RAr 99/79 -BSGE 51, 10, 14, 15). Das
Arbeitsförderungsrecht muß deshalb für die Bemessung des Alg nicht abweichend
von der bestehenden Lohnsteuerklasseneinteilung des § 111 Abs 2 AFG an das
durch Arbeitslosigkeit verminderte Gesamteinkommen der Familie anknüpfen.
Die Regelung des § 111 Abs 2 AFG kann im Hinblick auf Art 3 Abs 1 GG auch
deshalb für die nach Auffassung der Klägerin begünstigte Vergleichsgruppe
hingenommen werden, weil durch die angeführten Entscheidungen anerkannt ist,
daß auch zum Nachteil des Arbeitslosen individuelle Freibeträge, die auf der
Lohnsteuerkarte eingetragen werden können und sonstige Steuervergünstigungen,
-6-
die erst im Lohnsteuerausgleichsverfahren oder bei der Veranlagung zur
Einkommensteuer zu einer Steuerentlastung führen, grundsätzlich für die
Bemessung des Alg unberücksichtigt bleiben. Eine gewisse Parallelität zu dem hier
zu beurteilenden Fall besteht jedenfalls insoweit, als auch in jenen Fällen die rein
steuerrechtlichen Ausgleichsmechanismen zwischen den Eheleuten unbeachtet
bleiben dürfen (vgl BSGE 51, 10, 15 sowie Urteil vom 27. Juli 1989 aaO).
Der Nichtzulassungsbeschwerde war daher der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193
SGG.