BUNDESSOZIALGERICHT


Beschluß


in dem Rechtsstreit


Az: B 4 RA 131/98 B


Kläger und Beschwerdeführer,

Prozeßbevollmächtigter:


gegen


Bundesversicherungsanstalt für Angestellte,

Ruhrstraße 2, 10709 Berlin,

Beklagte und Beschwerdegegnerin.


Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat am 27. Januar 1999 durch den

Vorsitzenden Richter Dr. M., die Richter Dr. B. und

Dr. S. sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. S. und

T.


beschlossen:


Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil

des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. Juli 1998 wird zurückge-

wiesen.


Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.


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Gründe:


I


Der Kläger, der den Beruf des Einzelhandelskaufmanns erlernt hat und vor Ausübung ei-

ner selbständigen Erwerbstätigkeit zuletzt bis zum Jahre 1988 als Geschäftsführer ab-

hängig beschäftigt war, begehrt im Rahmen des Hauptsacheverfahrens die Gewährung

einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit. Das Landessozialgericht (LSG) hat das

in vollem Umfang zusprechende erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abge-

wiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen folgendes ausgeführt: Das Bundessozi-

algericht (BSG) habe zur Bestimmung der Wertigkeit des bisherigen Berufs für

Angestellte die folgenden Gruppen gebildet:

-unausgebildete Angestellte (Ungelernte)

-Angestellte mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren (Angelernte)

-Angestellte mit längerer Ausbildung, regelmäßig von drei Jahren (Ausge-

bildete) und

-Angestellte mit hoher beruflicher Qualität.

Ausgehend von diesen Kriterien sei der Kläger der Gruppe der Angestellten mit längerer

Ausbildung zuzuordnen und könne daher unter Berücksichtigung der festgestellten Lei-

stungseinschränkungen zumutbar noch auf Tätigkeiten der Anlernebene (hier: Angestell-

ter in der Registratur und im Archiv) verwiesen werden.

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit der

vorliegenden Nichtzulassungsbeschwerde und beruft sich zur Begründung seines Rechts-

mittels insbesondere auf eine Abweichung des Berufungsurteils von der Rechtsprechung

des BSG. Das LSG habe das von diesem im Bereich der Angestelltenversicherung zu-

grunde gelegte Sechs-Stufen-Schema undifferenziert zusammengefaßt und nur lücken-

haft angewandt. Dadurch sei es zu einer für den Kläger ungünstigen Bewertung seines

bisherigen Berufs und einer unzutreffenden bzw unzumutbaren Verweisung auf eine

Tätigkeit im Anlernbereich gekommen.


II


Die auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz

<SGG>) gestützte Beschwerde des Klägers ist zulässig, aber unbegründet (vgl zur Unter-

scheidung in Fällen der vorliegenden Art Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom

1. Oktober 1997, 1 BvR 454/95, LKV 1998, 141 f = ZBR 1998, 168 ff). Das Berufungsge-

richt hat zwar die vom Senat in Konkretisierung des einschlägigen Gesetzesrechts formu-


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lierten Obersätze im Einzelfall unzutreffend angewandt, seiner Entscheidung aber keinen

eigenen - von der oberstgerichtlichen Rechtsprechung abweichenden - abstrakten

Rechtssatz zugrunde gelegt und den Aussagen des BSG entgegengehalten.

Weder Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) noch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip - und

ebensowenig das Sozialstaatsprinzip - gewährleisten einen Instanzenzug (BVerfG, Be-

schluß vom 19. Februar 1992, 1 BvR 1935/91 in SozR 3-1500 § 160 Nr 6 mH auf

BVerfGE 4, 74, 94 f; 8, 174, 181 f; 11, 232, 233; ebenso BVerfGE 28, 21, 36). Insbeson-

dere ist es demgemäß auch nicht geboten, stets das Rechtsmittel der Revision zu eröff-

nen (BVerfGE 19, 323). Kann aber das Gesetz den Zugang zur Revisionsinstanz voll-

ständig versperren, kann es die Zulassung des Rechtsmittels im Rahmen der normativen

Ausgestaltung durch die jeweilige Prozeßordnung, deren Art 19 Abs 4 GG ohnehin stets

bedarf (BVerfGE 60, 253, 268, 269), grundsätzlich auch von formalen und inhaltlichen

Voraussetzungen abhängig machen. Das Institut der Revision ist daher eine nach ge-

setzgeberischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen geformteprozessuale Einrichtung

(BVerfGE 49, 148, 160), bei deren Gestaltung ein Verlust an Chancen zur Realisierung

materieller Gerechtigkeit im Einzelfall grundsätzlich in Kauf genommen werden kann

(BVerfGE 60, 253, 268). Eine äußerste Grenze der Auslegung einschlägiger gesetzlicher

Vorschriften besteht von Verfassungs wegen lediglich insofern, als einfachgesetzlich er-

öffnete Möglichkeiten, ein Rechtsmittel einzulegen bzw seine Zulassung zu erstreiten,

nicht in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise be-

schränkt werden dürfen (vgl BVerfGE 10, 264, 268, ständige Rechtsprechung; zuletzt

etwa BVerfG in NVwZ 1994, Beilage 4, 27 = BayVBl 1994, 530; speziell zur Nichtzulas-

sungsbeschwerde im SGG-Verfahren BVerfG in SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10).

Das BSG fungiert als eines der fünf obersten Bundesgerichte (Art 96 Abs 1 GG) grund-

sätzlich als höchstes Rechtsmittelgericht innerhalb seines Gerichtszweiges (vgl BVerfGE

8, 174, 177; BT-Drucks V/1449, S 3, 4 und Leibholz/Rinck/Hesselberger, Kommentar zum

Grundgesetz, Art 95 GG RdNr 11; Bettermann, JZ 1958, 235 ff mwN). Seine Aufgabe be-

steht demgemäß neben der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen gerichtlichen Ver-

fahrens im wesentlichen in der Einheit und Fortbildung des materiellen Bundes- bzw des

in § 162 SGG ausdrücklich aufgeführten Landesrechts (vgl BVerfGE 10, 285, 295;

BT-Drucks 7/861, S 10; BT-Drucks 7/2024, S 3). Nur innerhalb dieses öffentlichen Anlie-

gens und der vornehmlich hieran orientierten Ausgestaltung der Revision kann das Indivi-

dualinteresse an der Beseitigung und Ersetzung unrichtiger Instanzentscheidungen zum

Zuge kommen: Es dient als unverzichtbar notwendiges Vehikel der Klärung des abstrak-

ten Rechts und hat nur insofern und insoweit, als hieran ein unabweisbarer Bedarf be-

steht, Anspruch auf die hieraus für den konkreten Sachverhalt zu erteilende Antwort.

Dem entspricht äußerlich die doppelte Notwendigkeit von (ggf im Wege der Beschwerde

erkämpfter) Zulassungsentscheidung und Einlegung der Revision, inhaltlich ihre Abhän-


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gigkeit vom tatsächlichen Vorliegen der im Gesetz enumerativ aufgeführten Zulassungs-

gründe. Die Beschwerde nach § 160a SGG gegen die vom Berufungsgericht verweigerte

Zulassung der Revision dient in diesem Zusammenhang allein der Herbeiführung der

Statthaftigkeit des Rechtsmittels in der Hauptsache durch Klärung und Feststellung eines

im öffentlichen Interesse liegenden Entscheidungsbedarfs im Zusammenhang eines

sachlich allenfalls nach Zulassung und zulässiger Einlegung der Revision zu beurteilen-

den Tatbestandes. Sie hat damit weder eine originäre Sachentscheidung noch eine auf

die Sachentscheidung der Vorinstanz bezogene Rechtsmittelentscheidung zum Ziel, son-

dern betrifft ausschließlich die hiervon gänzlich unabhängig zu beantwortende Frage, ob

das Berufungsgericht zutreffend die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision ver-

neint hat (BVerwGE 34, 40, 41 f). Der Beschwerdeführer wird unter diesen Umständen

auf dem "schmalen Weg zum Revisionsgericht" (vgl Baring, Die Nichtzulassungsbe-

schwerde im Verwaltungsgerichtsverfahren, NJW 1965, 2280) gezwungenermaßen in die

Rolle eines Anwalts öffentlicher Belange gedrängt.

 

Die genannten Gegebenheiten eröffnen den Kontext, in dem die hier allein in Frage ste-

henden Nrn 1 und 2 des § 160 Abs 2 SGG sowie die hierzu bzw zu § 160a SGG ergan-

gene Rechtsprechung zu sehen sind. Eine "grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache"

liegt demgemäß im besonderen Zusammenhang der Eröffnung des Zugangs zur Revi-

sionsinstanz (vgl BSGE 2, 45, 47 f; BVerwGE 70, 24, 25) nur dann vor, wenn sie dazu

zwingt, im Interesse der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung eine

Rechtsfrage zum revisiblen Recht zu klären. Die Rechtsfrage muß hierzu einerseits zu

einer aufgrund ihrer Bedeutung für die Sicherung oder Erhaltung der Rechtseinheit bzw

die Fortbildung des Rechts über den Einzelfall hinausgehenden Entscheidung führen

(BSG in SozR 1500 § 160a Nrn 7 und 31), darf aber andererseits nicht nur abstrakt von

Interesse sein (vgl BFH vom 28. April 1972, III B 40/71, BFHE 105, 335), sondern muß

gerade im konkreten Fall tragend entscheidungserheblich und klärungsfähig sein. Auf-

grund dieser Vorbedingungen ist gleichzeitig für das Revisionsverfahren sichergestellt,

daß die oberstgerichtliche Rechtsprechung ihrer Funktion entsprechend über die streitige

Entscheidung des jeweils zur Entscheidung stehenden Einzelfalles hinaus stets auch ih-

rerseits verallgemeinerungsfähige Aussagen zum Inhalt der von ihr nach § 162 SGG an-

zuwendenden Rechtssätze trifft.

 

Ist ein Rechtsproblem auf diese Weise beantwortet, verbleibt dem Revisionsgericht abge-

sehen von den Ausnahmefällen des Auftretens erneuter Klärungsbedürftigkeit und sich

hieraus ggf abermals ergebender grundsätzlicher Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1

SGG (vgl etwa BSG in SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 13 und BFHE 97, 281 ff,

284 mwN) im wesentlichen nur die Sicherung der Rechtseinheit. Weder der allein auf die

Bewahrung einer Übereinstimmung auf abstrakt-genereller Ebene beschränkte Aufga-

benbereich des BSG noch der funktionelle Anwendungsbereich der Nichtzulassungsbe-

schwerde, deren Gegenstand wie dargestellt gerade nicht die Kontrolle sachlicher


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Rechtsfehler ist, sind indessen bereits dann eröffnet, wenn Instanzgerichte im Einzelfall

eine Entscheidung treffen, die mit den Vorgaben der oberstgerichtlichen Rechtsprechung

nicht übereinstimmt (vgl BSG in SozR 1500 § 160a Nr 7; BVerwG in Buchholz 310 § 108

VwGO Nr 266; BFHE 129, 313). Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall,

sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Re-

vision wegen Abweichung (BSG in SozR 1500 § 160a Nr 67). Vielmehr weicht das LSG

nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG als spezialgesetzlich geregeltem Unterfall der Zu-

lassung wegen grundsätzlicher Bedeutung (vgl BVerwG in Buchholz 310 § 132 Abs 2

Ziff 2 VwGO Nr 2) von einer Entscheidung ua des BSG ab, wenn es auch seinerseits zu-

mindest sinngemäß und in scheinbar fallbezogene Ausführungen gekleidet (BSG in SozR

1500 § 160 Nr 28; BAG AP Nr 9 zu § 72a ArbGG 1979 Divergenz) einen abstrakten

Rechtssatz aufstellt, der der zum selben Gegenstand gemachten und fortbestehend aktu-

ellen - nicht also etwa von der zwischenzeitlichen Gesetzes- oder Rechtsprechungsent-

wicklung überholten (BSG in SozR 1500 § 160a Nrn 58, 61) - abstrakten Aussage des

BSG entgegensteht und dem Berufungsurteil tragend zugrunde liegt (BSG in SozR 1500

§ 160a Nr 67; BAG in AP § 72a ArbGG 1979 Nrn 1, 2, 10). Hieran fehlt es im vorliegen-

den Fall.

 

Der Kläger hat zwar den im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu stellenden Anforderun-

gen (vgl BAG AP § 72a ArbGG 1979 Nr 9) genügend in ausreichendem Umfang darge-

legt, daß den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils aus seiner Sicht zwingend ein

divergierender abstrakter Rechtssatz zu entnehmen sei. Indessen ergibt eine sachliche

Überprüfung dieser Behauptung, daß das LSG die "Rechtsprechung des Bundessozialge-

richts", lediglich im dort entschiedenen Einzelfall unzutreffend angewandt hat.

Zur Gewährleistung einer zuverlässigen Abgrenzung von den Fällen einer fehlerhaften

Rechtsanwendung erfordert die Anwendung von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG stets unverzicht-

bar, daß das LSG selbst zweifelsfrei in den Gründen seiner Entscheidung wenigstens

mittelbar und (im Ergebnis) eindeutig einen Rechtssatz aufstellen wollte (BVerfG in NJW

1996, S 45 mwN; BAG AP § 72a ArbGG 1979 Divergenz Nr 15). Hieran fehlt es evident

bereits immer dann, wenn das LSG eine Rechtsfrage übersehen (BVerwG in Buchholz

310 § 132 VwGO Nr 147) oder Tatsachen anders beurteilt hat, als dies in der angezoge-

nen Entscheidung geschehen ist (BVerwG in Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 128; BFHE

129, 313). Die genannte Voraussetzung kann aber auch nicht bereits dann angenommen

werden, wenn sich ein abstrakter Obersatz erst nachträglich aus der Sicht eines kundigen

Lesers logisch induktiv aus der Urteilsbegründung ableiten läßt (vgl BAG AP § 72a ArbGG

1979 Nrn 11, 13); andernfalls läge bei falscher Rechtsanwendung und Vorliegen einer

einschlägigen Entscheidung des BSG oder des BVerfG stets eine Divergenz vor. Eine mit

Hilfe der Revisionszulassung zu beseitigende Gefährdung der Rechtseinheit ist vielmehr

nur und erst dann zu befürchten, wenn die Ausführungen des Berufungsurteils unzwei-

felhaft die Deduktion des gefundenen Ergebnisses aus einem sich aus der Entscheidung


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selbst wenigstens schlüssig ergebenden Rechtssatz, den das LSG als solchen auch

tatsächlich vertreten wollte (BVerfG und BAG aaO), erkennen lassen. Dies ist insbe-

sondere nicht der Fall, wenn sich das angefochtene Urteil - wie hier - auf den Boden "der

Rechtsprechung des Bundessozialgerichts" stellt und damit (nach dem Sachzusammen-

hang eindeutig) die Rechtssätze benennt, auf die es sich stützen will, dann aber unmittel-

bar anschließend dessen Aussagen zum - auf sechs Hauptstufen begrenzten - sog Mehr-

stufenschema (vgl Urteil des Senats in SozR 3-2600 § 43 Nr 13, 14) nur bruchstückhaft

wiedergibt.

 

Mißversteht das Berufungsgericht in dieser Weise einen Rechtssatz, dem es erkennbar

zu folgen gewillt war, und subsumiert es dementsprechend den von ihm festgestellten

Sachverhalt fehlerhaft (oder geht es zwar von einem zutreffenden Verständnis des Ober-

satzes aus, ordnet aber dennoch den von ihm festgestellten Sachverhalt unrichtig zu),

handelt es zwar im Einzelfall fehlerhaft, gefährdet aber - worauf es im vorliegenden Zu-

sammenhang allein ankommt - nicht die Rechtseinheit.


Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.


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