BUNDESSOZIALGERICHT


Beschluss


in dem Rechtsstreit


Az: B 1 KR 110/04 B

Klägerin und Beschwerdeführerin,


Prozessbevollmächtigte:


gegen


Deutsche Angestellten-Krankenkasse,

Nagelsweg 27-31, 20097 Hamburg,


Beklagte und Beschwerdegegnerin.


Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 18. Juli 2005 durch den

Präsidenten von W. sowie die Richter Dr. K.

und Dr. H.

beschlossen:


Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landes-

sozialgerichts Hamburg vom 14. Juli 2004 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

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Gründe:

I

[Abs 1] Die am 30. November 1995 geborene Klägerin ist mit ihrem Begehren, wegen idiopathischen

Kleinwuchses ab 14. Juli 2004 von der Beklagten eine Therapie mit dem für diese Indikation

nach deutschem Arzneimittelrecht nicht zugelassenen Arzneimittel Somatropin zu erhalten, in

den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ua ausgeführt, die

Voraussetzungen des Anspruchs aus § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch

(SGB V) und § 31 Abs 1 SGB V seien unter Berücksichtigung der Einschränkungen aus § 2

Abs 1 Satz 3 SGB V und § 12 Abs 1 SGB V nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundes-

sozialgerichts (<BSG>, Urteil vom 19. März 2002, B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184 = SozR

3-2500 § 31 Nr 8) nicht erfüllt. Es bleibe dahingestellt, ob und wann ein (idiopathischer) Klein-

wuchs eine Krankheit iS von § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V sei. Von einer schwerwiegenden

(lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkran-

kung könne der Senat nach dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung nicht ausgehen, zu-

mal sich die Klägerin noch in vorpubertärem Alter befinde und ihr Wachstumsprozess nicht

abgeschlossen sei. Selbst wenn man dies aber und zugleich unterstelle, dass eine andere The-

rapie nicht verfügbar sei, könne jedenfalls von einem Konsens in den einschlägigen

Fachkreisen über einen voraussichtlichen Nutzen des Arzneimittels nicht gesprochen werden

(Urteil vom 14. Juli 2004).


[Abs 2] Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-

Urteil. Sie macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Divergenz und Verfahrens-

fehler geltend.

 

II

 

[Abs 3] Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozial-

gerichtsgesetz (SGG) zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2

Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisions-

zulassungsgründe nach § 160 Abs 2 Nr 1, 2 und 3 SGG.


[Abs 4] 1. Soll die Revision nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechts-

sache zugelassen werden, muss in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung

dargelegt werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu ist es nach der ständigen Rechtspre-

chung des BSG erforderlich, eine Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie

über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt, und dass die Rechtsfrage klärungsbe-

dürftig sowie klärungsfähig ist, dh sie im Falle der Zulassung der Revision entscheidungserheb-

lich wäre (vgl Senat, Beschluss vom 28. Februar 2005, B 1 KR 6/04 B; BSG SozR 3-1500

 

 - 3 -

 

§ 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f

mwN). Wird ein Urteil - wie vorliegend - nebeneinander auf mehrere selbstständige Begründun-

gen gestützt, so kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nur dann zur Zulassung der Revision

führen, wenn im Hinblick auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund vorliegt und form-

gerecht gerügt wird (vgl Senat, Beschluss vom 24. März 2005, B 1 KR 94/04 B; Senat, Be-

schluss vom 16. Juni 1998, B 1 KR 5/98 B; BSG SozR 1500 § 160a Nr 38; Hennig, SGG,

§ 160a RdNr 207 mwN). Hieran fehlt es. Das LSG hat die Berufung der Klägerin

zurückgewiesen,weildergeltendgemachteAnspruchausmehrerenvoneinander

unabhängigen Gründen nicht bestehe: Zum einen sei der idiopathische Kleinwuchs, soweit es

sich überhaupt um eine Krankheit handele, jedenfalls keine schwerwiegende Krankheit. Zum

anderen bestehe auf Grund der Datenlage nicht die begründete Aussicht, dass mit dem

betroffenen Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Im Hinblick auf diese, die

Entscheidung jeweils selbstständig tragenden Begründungen im LSG-Urteil hätte die

Beschwerdefürbeide voneinanderunabhängigeBegründungsstränge

Revisionszulassungsgründe behaupten und darlegen müssen. Daran fehlt es.

 

[Abs 5] Bereits die Darlegungen der Beschwerde zum ersten Begründungsstrang reichen nicht hin. Die

Beschwerde bezieht sich insoweit auf den Seiten 5 f und 9 f der Beschwerdebegründung auf

mehrere Rechtsfragen, die unterschiedlich formuliert und (teilweise in den Fragestellungen

selbst) mit weiterem tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen untermauert werden. Diese Fra-

gen werden schlussendlich auf Seite 16 sinngemäß und - den Darlegungserfordernissen des

§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG entsprechend - hinreichend klar wie folgt zusammengefasst:


[Abs 6] 1. Wann ist eine schwerwiegende, dh die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig

beeinträchtigende Erkrankung anzunehmen?

 

[Abs 7] 2. KönnenStudienergebnisse ausausländischen abgeschlossenen

Zulassungsverfahren als ausreichende Erkenntnisse zum Nachweis dafür

herangezogen werden, dass mit einem in Deutschland zulassungsüberschreitend

angewandten Arzneimittel ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden

kann bzw dass in Fachkreisen Konsens über den Einsatz des Arzneimittels für die

konkrete streitige Indikation besteht?

 

[Abs 8] Bezüglich dieser Fragen ist indessen nicht erkennbar, dass sie in dem angestrebten Revisions-

verfahren klärungsfähig bzw entscheidungserheblich sein können.

 

[Abs 9] Insoweit ist von Bedeutung, dass das LSG zu Frage 1. angenommen hat, dass eine die ge-

nannten Ausmaße erreichende Krankheit bei der Klägerin nicht bestehe. Es hat sich dazu zum

einen auf den Wachstumsprozess der Klägerin gestützt, die sich noch in einem vorpubertären

Alter befinde, und zum anderen darauf, dass nach dem Eindruck, den der Senat in der münd-

lichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen habe, nicht festgestellt werden könne, dass sie

 

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durch ihre Körpergröße in ihrer Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt sei. Hinzuweisen ist

weiter darauf, dass der Senat im Sandoglobulin®-Urteil (BSGE 89, 184 191 f = SozR 3-2500

§ 31 Nr 8) den Ausgangspunkt des Vorliegens einer "schwerwiegenden" Erkrankung bereits

dahin näher definiert hat, dass es um eine "lebensbedrohende oder die Lebensqualität auf

Dauer nachhaltig beeinträchtigende" Krankheit gehen muss. Die Beschwerde wirft in

Ergänzung dieser Rechtsprechung letztlich nur die Frage auf, in welcher Weise die

beschriebenen Merkmale weiter konkret auszufüllen sind. Dies wird daran deutlich, dass sie

sich hierzu auf den Seiten 6 bis 9 ihrer Begründung ausführlich mit der besonderen Situation

der Klägerin befasst und sich dazu auf das bei ihr bestehende Leiden (= Kleinwuchs im

Kindesalter) bezieht. Es bestand vor dem aufgezeigten Hintergrund indessen sowohl Anlass, im

Einzelnen darzulegen, dass es bei der aufgeworfenen Frage um eine Rechtsfrage von

allgemeiner, über den Einzelfall der Klägerin und ihre spezifische Erkrankung hinausgehende

Bedeutung geht, als auch die Notwendigkeit darauf einzugehen, dass hier nicht lediglich eine

(mit Blick auf § 163 SGG) nur mit Verfahrensrügen angreifbare Tatfrage im Raum steht. Die

Frage, ob das LSG den Sachverhalt zutreffend unter einen in der höchstrichterlichen

Rechtsprechung bereits mit Auslegungshinweisen versehenen Rechtsbegriff subsumiert hat, ist

regelmäßig kein im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren beachtlicher Gesichtspunkt (vgl

§ 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG). Zum anderen kann angesichts der Vielzahl der in der Medizin

diskutierten Krankheitsbilder die Frage nach den Behandlungsmöglichkeiten und dem

Behandlungsanspruch für ein einzelnes Leiden nicht in den Rang einer Rechtsfrage von

grundsätzlicher Bedeutung gehoben werden (vgl zB Beschlüsse des Senats vom 20. Juni 2004

- B 1 KR 1/03 B, vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 92/03 B und vom 21. Dezember 2004 - B 1 KR

11/03 B). Unter dem Blickwinkel, ob die Frage in einem Revisionsverfahren überhaupt

klärungsfähig ist, hätte die Beschwerde vor allem darauf eingehen müssen, dass ein

allgemeiner Bedarf bestehen soll und es überhaupt möglich ist, die im Sandoglobulin-Urteil

aufgestellten Voraussetzungen für einen Off-Label-Use in Bezug auf das streitige Merkmal

revisionsrechtlich weiter zu präzisieren. Hierzu hätte dargelegt werden müssen, dass eine

genauere Konkretisierung der Merkmale unter Zuhilfenahme allgemein gültiger Kriterien

unabhängig von den Verhältnissen im Zusammenhang mit einer einzelnen Krankheit in

Betracht kommt. Daran fehlt es.

 

[Abs 10] Soweit die Beschwerde mit ihrer zweiten Frage eine weitere Voraussetzung des Off-Label-Use

im Falle der Klägerin für grundsätzlich bedeutsam hält, fehlt es an der Entscheidungserheblich-

keit. Der Senat dürfte - wie dargelegt - in einem Revisionsverfahren schon nicht zu Grunde le-

gen, dass hier das vorgreifliche Merkmal einer bestehenden schwerwiegenden Erkrankung er-

füllt ist.

 

[Abs 11] 2. Auch soweit sich die Beschwerde auf den Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG be-

ruft und geltend macht, das LSG-Urteil sei vom Urteil des Senats vom 19. Oktober 2004,

B 1 KR 27/02 R (vorgesehen für BSGE und SozR) abgewichen, fehlt es an § 160a Abs 2 Satz 3

 

 - 5 -

 

SGG genügenden Darlegungen. Wer sich auf diesen Zulassungsgrund beruft, muss entschei-

dungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einer

höchstrichterlichen Entscheidung andererseits gegenüberstellen und begründen, weshalb diese

miteinander unvereinbar seien (vgl Senat, Beschluss vom 27. Juni 2005, B 1 KR 43/04 B;

Senat, Beschluss vom 28. Februar 2005, B 1 KR 10/04 B; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,

SGG, 8. Aufl 2005, § 160a RdNr 15, § 160 RdNr 10 ff mwN). Daran fehlt es. Die Beschwerde

zitiert zwar Passagen aus dem Urteil des BSG, benennt aber keinen dazu konträren Rechtssatz

des LSG-Urteils, aus dem sich die Notwendigkeit zur Herstellung von Rechtseinheit durch eine

höchstrichterliche Entscheidung ergeben könnte. Während das BSG in der zitierten Entschei-

dung sich mit Maßnahmen zur Behandlung einer Krankheit auseinander setzt, die so selten

auftritt, dass ihre systematische Erforschung praktisch ausscheidet, geht das LSG-Urteil nicht

von einem solchen Sachverhalt aus. Dies stellt indessen keine Divergenz iS eines bewussten

Aufstellens abweichender Rechtssätze dar (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26).


[Abs 12] 3. Soweit die Beschwerde vorbringt, das LSG hätte bezüglich des Vorliegens einer schwerwie-

genden Erkrankung sowie zum Bestehen ausreichender Kenntnisse aus Studien der Phase III

über den Einsatz von Somatropin bei idiopathischem Kleinwuchs Beweis erheben müssen, legt

sie einen Verfahrensfehler nicht in der gebotenen Weise dar. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist

die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird, auf dem die ange-

fochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nach

Halbsatz 2 der Regelung auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich

auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Insoweit fehlt es an der Bezugnahme auf einen berücksichtigungsfähigen Beweisantrag. Hierzu

geht das BSG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es jedenfalls rechtskundig vertre-

tenen Beteiligten wie hier der rechtsanwaltlich vertretenen Klägerin obliegt, in der mündlichen

Verhandlung alle diejenigen Anträge zur Niederschrift des Gerichts zu stellen, über die das Ge-

richt entscheiden soll (vgl Senat, Beschluss vom 27. Juni 2005, B 1 KR 40/04 B mwN). Sinn der

erneuten Antragstellung ist es, zum Schluss der mündlichen Verhandlung auch darzustellen,

welche Anträge nach dem Ergebnis der für die Entscheidung maßgebenden mündlichen Ver-

handlung noch abschließend gestellt werden, mit denen sich das LSG dann im Urteil befassen

muss, wenn es ihnen nicht folgt. Dem genügt die Beschwerde mit ihrem Hinweis nicht, die Klä-

gerin habe ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 14. Juli 2004 hilfsweise beantragt,

Dr. A zur Kausalität zwischen Somatropin-Therapie und Wachstum zu vernehmen.

Ungeachtet der Frage, ob damit eine bloße Beweisanregung oder tatsächlich ein Beweisantrag

bezeichnet wird (vgl hierzu §§ 373, 404 Zivilprozessordnung iVm § 118 SGG und Senat,

Beschluss vom 16. März 2005, B 1 KR 19/04 B; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9), bezeichnet die

Beschwerde damit keinen Beweisantrag zum Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung

oder zum Bestehen ausreichender Erkenntnisse. Der Hinweis auf frühere Äußerungen der

Klägerin in Schriftsätzen für das Gericht genügt unter Berücksichtigung der Warnfunktion, die

- wie dargelegt - der Antragswiederholung zukommen soll, gerade nicht.

 

- 6 -

 

[Abs 13] Soweit die Beschwerde mit dem Vortrag, die Klägerin habe nicht davon ausgehen müssen,

dass das Gericht den mit Schriftsatz vom 11. Juli 2004 vorgelegten Urkunden keine Beachtung

schenke, beabsichtigt haben sollte, die Gehörsrüge zu erheben, so ist diese ebenfalls nicht hin-

reichend dargelegt. Die Beschwerde setzt sich insoweit nicht damit auseinander, dass das

LSG-Urteil ausdrücklich auf Seite 7 im ersten Absatz der Entscheidungsgründe auf die

überreichten Urkunden, das Schreiben der Fa. Lvom 9. Juli 2004, eingeht und den

kanadischen Pädiater Prof. G zitiert hat, der nicht davon ausgehe, "dass gesunde

Kleinwüchsige unterm Strich von der Therapie profitieren" würden. Im Kern geht es der

Beschwerde auch an dieser Stelle um die Beweiswürdigung des LSG-Urteils. Nach § 160 Abs 2

Nr 3 2. Halbsatz SGG kann die Beschwerde aber nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1

Satz 1 SGG gestützt werden.


[Absatz 14] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

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