BUNDESSOZIALGERICHT
Im Namen des Volkes
Urteil
in dem Rechtsstreit
Az: 9/9a RVs 19/86
Kläger und Revisionskläger,
Prozeßbevollmächtigte:
gegen
Beklagter und Revisionsbeklagter.
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung
am 3. Februar 1988
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom
23. Oktober 1986 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
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Gründe:
I
Bei dem Kläger ist wegen seiner Kriegsverletzung und wegen anderer Gesund-
heitsstörungen ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 vH anerkannt. Ihm ist
ferner das Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung) und die Berechtigung
zur zuschlagsfreien Benutzung der 1. Klasse bei Reisen mit der Bundesbahn
zuerkannt. Er erstrebt auch das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Geh-
behinderung), um die besonderen für außergewöhnlich Gehbehinderte einge-
richteten Parkplätze benutzen zu dürfen, weil er nur ein- und aussteigen könne,
wenn die Wagentür vollständig geöffnet sei; das setze die geräumigeren mit
dem Rollstuhlfahrersymbol gekennzeichneten Parkplätze voraus.
Das Sozialgericht Gelsenkirchen (SG) hat die Klage mit der Begründung abge-
wiesen, der Kläger gehöre nicht dem gesetzlich umschriebenen Personenkreis
an, der sich wegen der Schwere des Leidens ständig nur mit fremder Hilfe oder
nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne.
Pro Tag könne der Kläger zwar nur 1 bis 1,5 km an Wegstrecke zurücklegen, er
sei jedoch fähig, zusammenhängend 300 m zu gehen. Diese Fähigkeit über-
steige erheblich die Gehstrecke, die Querschnittsgelähmten, Doppeloberschen-
kelamputierten oder vergleichbaren Behinderten noch zugemutet werden
könne.
Mit der vom SG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, er könne im
Umkreis von 300 m von seiner Wohnung kein öffentliches Verkehrsmittel errei-
chen. Wenn man ihm das Merkzeichen "aG" verweigere, verstoße dies gegen
den Zweck des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG), die Eingliederung in
Arbeit, Beruf und Gesellschaft zu fördern. Es müsse immer die Behinderung im
Einzelfall beachtet werden.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Beklagten unter Abän-
derung des Bescheides vom 23. November 1984 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 1985 und unter Aufhebung des
Bescheides vom 3. Juni 1983 zu verurteilen, ihm das Merkzeichen
"außergewöhnliche Gehbehinderung (aG)" zuzuerkennen.
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Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Ver-
handlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das SG hat zu Recht entschieden,
daß dem Kläger das Merkzeichen "aG" nicht zusteht.
Nach § 3 Abs 4 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979
(BGBl I 1649) und ebenso nach § 4 Abs 4 der Neufassung vom 26. August
1986 (BGBl I S 1421, berichtigt 1550) treffen die für die Durchführung des Bun-
desversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Fest-
stellungen über weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die
Inanspruchnahme einer Vergünstigung, bzw eines Nachteilsausgleichs. Nach
§ 3 Abs 1 Nr 1 der Vierten Verordnung zur Durchführung der SchwbG vom
15. Mai 1981 (BGBl I 431 - Ausweisverordnung -, jetzt gültig idF der Bekannt-
machung vom 3. April 1984 - BGBl I S 509) ist im Ausweis des Schwerbehin-
derten das Merkzeichen "aG" einzutragen, wenn der Schwerbehinderte außer-
gewöhnlich gehbehindert ist iS des § 6 Abs 1 Nr 14 des Straßenverkehrs-
gesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften.
Damit weist das Schwerbehindertenrecht, wie der Senat bereits in seinem Urteil
vom 6. November 1985 - 9a RVs 7/83 - (SozR 3870 § 3 Nr 18) entschieden hat,
die Abgrenzung des begünstigten Personenkreises dem Rechtsgebiet zu, für
das die Begünstigung allein Bedeutung hat. Denn ein Ausweis mit dem Merk-
zeichen "aG" befreit den Behinderten von Beschränkungen des Haltens und
Parkens im Straßenverkehr und eröffnet ihm besonders gekennzeichnete
Parkmöglichkeiten, die - wie der Kläger zutreffend anführt - auch eine größere
Fläche als Parkraum zur Verfügung stellen (nach DIN 18 024 Teil 1, wie in der
nach § 6 Abs 1 Straßenverkehrsgesetz -StVG- idF vom 6. April 1980 (BGBl I
S 413) zuletzt erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Änderung der
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO vom 21. Juli 1980 (BAnz Nr 137
vom 29. Juli 1980 S 2) unter Art 1 Nr 7a VIII zu § 45 angeordnet ist).
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Umschrieben wird der begünstigte Personenkreis in der vom Bundesminister
für Verkehr erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO idF vom
22. Juli 1976 (BAnz Nr 142 vom 31. Juli 1976 S 3), die auf der gesetzlichen
Grundlage des § 6 StVG idF vom 6. August 1975 (BGBl I 2121) beruht. Dort
wird unter Art 1 II die alte Verwaltungsvorschrift zu § 46 unter Nr 11 dahin er-
gänzt, welche Schwerbehinderten als außergewöhnlich gehbehindert anzuse-
hen sind, nämlich solche, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd
nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraft-
fahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppel-
oberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, aber auch einseitig
Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tra-
gen oder die nur eine Beckenkorbprothese tragen können. Neben beispielhaft
aufgeführten Behinderten zählen dazu auch diejenigen, die nach versorgungs-
ärztlicher Feststellung aufgrund von Erkrankungen dem vorstehend
angeführten Personenkreis gleichzustellen sind; des weiteren enthält diese
Verwaltungsvorschrift besondere Regelungen für Blinde.
Das SG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger dem begünstigten Perso-
nenkreis nicht gleichgestellt werden kann. Er leidet an einer erheblichen Bewe-
gungseinschränkung des Hüftgelenks bei federnder Versteifung des Knie-
gelenks nach deformverheiltem Schußbruch des linken Oberschenkels. Wie der
Senat bereits in dem genannten Urteil unter Bezugnahme auf SozR 3870 § 3
Nr 11 entschieden hat, liegt eine außergewöhnliche Gehbehinderung in diesem
Sinne nur vor, wenn die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße einge-
schränkt ist; die Fähigkeit zu gehen muß unter ebenso großer Anstrengung
oder ebenso nur noch mit fremder Hilfe möglich sein, wie bei dem beispielhaft
aufgeführten Personenkreis. Das Recht, die Gruppe der zu begünstigenden
Schwerbehinderten aus den Zwecken des SchwbG darüber hinaus zu erwei-
tern, ist weder den für die Ausstellung des Ausweises zuständigen Behörden
noch den Sozialgerichten eingeräumt. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die
Formulierung in § 3 Abs 1 Nr 1 der Schwerbehinderten-Ausweisverordnung in-
soweit straßenverkehrsrechtliche Vorschriften für maßgeblich erklärt. Daran hat
die Aufforderung des § 48 Abs 1 SchwbG (in der seit 1. August 1986 geltenden
Fassung), die Nachteilsausgleiche so zu gestalten, daß sie der Art oder
Schwere der Behinderung Rechnung tragen, nichts geändert. Gleichgestellt
werden können daher nicht alle Personen, die durch vergleichbar schwere Lei-
den behindert sind, sondern nur solche, bei denen die Auswirkungen der
Leiden denen gleichzuerachten sind, die der Bundesminister für Verkehr in
seinen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften genannt hat. Der
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Leidenszustand muß wegen der außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen
die Fortbewegung auf das Schwerste einschränken.
Das SG hat unangegriffen (§ 163 SGG) festgestellt, daß die von verschiedenen
Ärzten festgestellte Gehstrecke, die der Kläger noch zusammenhängend zu-
rücklegen kann, weit über den Wegstrecken liegt, die Doppeloberschenkel-
amputierten und vergleichbaren Personen zugemutet werden können. Der Klä-
ger erstrebt auch die Vergünstigung nicht so sehr deshalb, weil er von gewöhn-
lichen Parkplätzen aus angestrebte Ziele nicht erreichen könnte. Er sieht sich
auf einen mit dem Rollstuhlfahrersymbol gekennzeichneten Parkplatz deshalb
angewiesen, weil normale Parkplätze ihm das Ein- und Aussteigen nicht oder
nicht ungefährdet ermöglichen. Zum Ausgleich derartiger Nachteile hat aber der
Bundesminister für Verkehr die Ausnahmegenehmigung nicht geschaffen. Sie
ist vielmehr dazu gedacht, den Schwerbehinderten mit dem Pkw möglichst
nahe an sein jeweiliges Ziel fahren zu lassen: Er darf in Fußgängerzonen par-
ken, Parkzeiten überschreiten oder ohne Gebühr parken. Damit derartige Park-
plätze auch ortsnah zur Verfügung stehen, sind Sonderparkplätze in der Nähe
von Behörden, Krankenhäusern, Orthopädischen Kliniken anzulegen; den
außergewöhnlich Gehbehinderten sind auch Parksonderrechte vor der Woh-
nung oder in der Nähe der Arbeitsstätte einzurichten, wenn in zumutbarer Ent-
fernung eine Garage oder ein Abstellplatz außerhalb des öffentlichen Verkehrs-
raumes nicht vorhanden ist (vgl die Allgemeine Verwaltungsvorschrift in der
Fassung vom 21. Juli 1980 aaO). Der Umfang dieser Vergünstigungen verdeut-
licht nochmals, daß nicht die Schwierigkeiten bei der Benutzung des gewöhnli-
chen Parkraums, sondern die jeweilige Lage bestimmter Parkplätze zu be-
stimmten Zielen straßenverkehrsrechtlich maßgeblich ist. Der Nachteilsaus-
gleich soll allein die neben der Personenkraftwagenbenutzung unausweichlich
anfallende tatsächliche Wegstrecke soweit wie möglich verkürzen. Dies be-
deutet zugleich, daß der Personenkreis eng zu fassen ist. Denn mit der Aus-
weitung des Personenkreises steigt nicht nur die Anzahl der Benutzer, dem an
sich mit einer Vermehrung entsprechender Parkplätze begegnet werden
könnte. Mit jeder Vermehrung der Parkflächen wird aber dem gesamten Perso-
nenkreis eine durchschnittlich längere Wegstrecke zugemutet, weil ortsnaher
Parkraum nicht beliebig geschaffen werden kann. Auch hier ist bei einer an sich
vielleicht wünschenswerten Ausweitung des begünstigten Personenkreises zu
bedenken, daß dadurch der in erster Linie zu begünstigende Personenkreis
wieder benachteiligt würde.
Auch aus der Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung für Blinde können
weitere Folgerungen zugunsten des Klägers nicht gezogen werden. Wie der
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Senat in der Entscheidung SozR 3870 § 3 Nr 18 bereits ausgeführt hat, fehlt es
insoweit an der Möglichkeit, sonstige Beschädigte mit Blinden gleichzustellen.
Die maßgebliche Verwaltungsvorschrift zu § 46 Nr 11 II Nr 2 besagt vielmehr im
Einklang mit § 6 Abs 1 Nr 14 StVG lediglich, daß für Blinde ebenso wie für
außergewöhnlich Gehbehinderte eine Ausnahmegenehmigung zugunsten des
jeweiligen Kraftfahrzeugführers ausgestellt werden kann. Die Blinden werden
damit nicht zu außergewöhnlich Gehbehinderten erklärt. Ihnen wird nur stra-
ßenverkehrsrechtlich derselbe Nachteilsausgleich eingeräumt, ohne daß ihr
Schwerbehindertenausweis mit "aG" zu kennzeichnen ist. Auf die tatsächliche
Handhabung kommt es insoweit nicht an. Schon deshalb entbehrt der Gleich-
stellungsanspruch des Klägers gegenüber der Versorgungsverwaltung der
Grundlage. Der Kläger ist auch nicht generell an der Benutzung gewöhnlicher
Parkplätze gehindert. Es hängt von ihrer Lage und Ausgestaltung im Einzelfall
ab, ob der Kläger auf der Fahrerseite die Tür ausreichend weit öffnen und mit
welchen Vorkehrungen er eine Gefährdung durch den fließenden Verkehr ver-
meiden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.