Nachschlagewerk: ja

BGHZ: ja

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20, BGB § 203


Die Verjährung wird gehemmt, auch wenn die arme Partei

das Gesuch um Bewilligung des Armenrechts für die Er-

hebung der Klage zwar noch innerhalb der Verjährungs-

frist, aber so spät - auch noch am letzten Tage - bei

Gericht einreicht, daß darüber nicht mehr vor Frist-

ablauf entschieden werden kann (Abweichung von BGHZ 17,

199 und 37, 113).

BUNDESGERICHSTHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

II ZR 124/76

verkündet am 19. Januar 1978


Justizobersekretär

Als Urkundsbeamter

der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit des Fischermeisters … K …


Klägers und Revisionsklägers,

- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -


gegen


die Gesellschaft für K … und K … mbG,

gesetzliche vertreten durch den Geschäftsführer Manfred P …

Beklagte und Revisionsbeklagte,

- Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt … -


Tatbestand:


Der Fischkutter "Anneliese" des Klägers, eines

selbständigen Fischermeisters, ist am 4. März 1973

nach einer Kollosion mit MS "Hanseat III" der Beklagten

in der Lübecker Bucht gesunken. Der Kläger verlangt

Ersat eines Teils seines nicht durch Versicherung

gedeckten Schadens. Er ist der Auffassung, die Schiffs-

führung von MS "Hanseat III" habe durch ihr Verschulden

den Schiffszusammenstoß überwiegend verursacht Die

Parteien haben bis August 1974 außergerichtlich über

eine vergleichsweise Regelung verhandelt konnten sich

aber nicht über die Schadensquote einigen. Am


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23. Oktober 1974 beantragten die vom Kläger bevoll-

mächtigten Rechtsanwälte beim Landgericht Lübeck das

Armenrechts für eine Klage über 37 061,22 DM nebst Zinsen.

Mit Schriftsatz vom 26. November 1974, der einen Tag

später bei Gericht einging, rügte die Beklagte unter

anderem die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts,

mit dem Hinweis, daß sie ihren Sitz in Hamburg habe.

Die Anwälte des Klägers erwiderten mit Schriftsatz vom

10. Februar 1975, der am 19. Februar beim Landgericht

Lübeck eingegangen ist. Sie beantragten unter Erweiterung

des Gesuchs auf ca. 49 704,53 DM das Armenrechtsverfahren

an das Landgericht Hamburg abzugeben. Diesem Antrag hat

das Landgericht Lübeck entsprochen. Die Akten trafen am

3. März 1975 beim Landgericht Hamburg ein. Die zunächst

der Zivilkammern 10 zugeleitete Sache wurde an die Zivil-

kammer 6 abgegeben und anschließend, auf Antrag der Be-

klagten, an die Kammer für Handelssachen verwiesen. Nach-

dem die Beklagte sich auf Verjährung berufen hatte, hat

das Landgerichts durch Beschluß vom 4. Juni 1975 dem Kläger

das Armenrecht versagt. Seine Beschwerde wurde durch Be-

schluß des Oberlandesgerichts vom 18. August 1975 zurück-

gewiesen. Am 2. September 1975, der Beklagten zugestellt

am 4. September 1975, erhob der Kläger Klage mit dem Antrag,

die Beklagte zu verurteilen, 39.763,63, DM nebst 4 %

Zinsen seit dem 21. Oktober 1973 zu bezahlen.

Die Beklagte hat erneut die Einrede der Verjährung erhoben.


Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben die

Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt

der Kläger seinen Klageanspruch weiter.


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Entscheidungsgründen:

Das Berufungsgericht hat den auf § 736 Abs. 1 HGB

gestützten Schadensersatzanspruch für verjährt und die

Klage schon aus diesem Grunde für abweisungsreif ge-

halten. Dem ist jedoch, wie die Revision zu Recht geltend

macht, nicht zu folgen.

Ansprüche dieser Art verjähren gemäß § 901 Satz 2

Nr. 2 HGB a.F. und § 902 Nr. 2 HGB i.d.F. d. Seerechts-

änderungsgesetzes vom 21. Juni 1972, BGBl I 1513 (= n. F.)

in zwei Jahren vom Ablauf des Kollosionstags

an gerechnet (§ 903 HGB). Diese Frist war am 4. März 1975,

also bevor der Kläger am 4. September 1975 Klage erhob,

abgelaufen. Die Einreichung des Armenrechtsgesuchs hat

die Verjährung nicht unterbrochen; eine dahingehende

gesetzliche Regelung besteht nicht (§ 209 BGB). Die Ver-

jährung war jedoch gehemmt (§ 203 BGB), weil der Kläger

wegen des Unvermögens, die Prozeßkosten zu tragen, während

der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch - im

Sinne jener Vorschrift - „höhere Gewalt" an der Rechts-

verfolgung gehindert war.

Das entspricht allerdings bei dem vorliegenden Sach-

verhalt nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundes-

gerichtshofes, der sich das Berufungsgericht angeschlossen

hat (BGHZ 17, 199; BGH, Urt. v. B. 5. 56 - VI ZR 58/55,

LM BGB § 254 [E] Nr. 2; v. 28. 9. 59 - III ZR 75/58,

VersR 1960, 60; v. 20. 6. 60 - III ZR 127/59, VersR 1960,

951; BGHZ 37, 113; v. 30. 9. 69 - VI ZR 54/68, DAVorm. 70,

10; v. 8. 3. 77 - VI ZR 142/75, VersR 1977, 622). Danach

soll der Umstand, daß das Gericht erst nach Fristablauf


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entscheidet, nur dann einen Fall höherer Gewalt dar-

stellen, wenn der Berechtigte alles in seinen Kräften

Stehende getan hat, um eine rechtzeitige Bewilligung

des Armenrechts zu erreichen und damit eine Klage-

erhebung noch vor Ablauf der Verjährung zu ermöglichen.

Diese Voraussetzungen waren hier nicht erfüllt. Denn

die Beklagte, die ihren Sitz in Hamburg hat, hatte

schon mit Schriftsatz vom 26. November 1974 die örtliche

Zuständigkeit des vom Kläger zum Zwecke der Armenrechts-

bewilligung angerufenen Landgerichts Lübeck gerügt.

Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers stellte jedoch

erst am 19. Februar 1975, also mehr als zwei Monate

später, beim Landgericht Lübeck den Antrag, das Armen-

rechtsverfahren an das Landgericht Hamburg abzugeben.

Nach dieser vom Kläger oder seinen Anwälten zu vertretenden

Verzögerung konnte mit einer Entscheidung des Landgerichts

Hamburg bis zum 4. März 1975 nicht mehr gerechnet werden.

An der Auffassung, die Verjährung werde nur gehemmt,

wenn die unbemittelte Partei so frühzeitig das Armenrecht

beantrage, daß darüber bei gewöhnlichem Geschäftsgang

des Gerichts noch innerhalb der Verjährungsfrist ent-

schieden und Klage erhoben werden können, kann jedoch nicht

festgehalten werden.

Im Bereich des Rechtsschutzes gebietet es der allge-

meine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung

mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die

prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten

weitgehend anzugleichen (BVerfGE 9, 124, 131; 10, 264,

270). Der unbemittelten Partei darf daher die Rechtsver-

folgung und -verteidigung im Vergleich zur bemittelten


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nicht unverhältnismäßig erschwert werden (BVerfGE 2, 336,

340; 9, 124, 130, 131). Daraus hat das Bundesverfassungs-

gericht unter anderem hergeleitet, daß es gegen Art. 3

Abs. 1, 20 Abs. 1 GG verstoße, im Zivilprozeß einem unbe-

mittelten Rechtsmittelkläger, der nach Bewilligung des

Armenrechts die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag

(§ 234 Abs. 1 ZPO) versäumt hat, keine Wiedereinsetzung

zu gewähren (BVerfGE 22, 83).

Nach Ansicht des Senats sind diese Grundsätze auch

im vorliegenden Falle anzuwenden; sie erfordern es, die

Hemmung der Verjährung auch dann eintreten zu lassen, wenn

ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armen-

rechtsgesuch zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber

so spät - unter Umständen noch am letzten Tag - eingereicht

wird, daß darüber vor Fristablauf nicht mehr entschieden

werden kann.

Die gegenwärtige Rechtspraxis benachteiligt die unbe-

mittelte Partei und führt außerdem zur Rechtsunsicherheit

im Einzelfall: Einer bemittelten Partei steht der volle

Zeitraum, in dem die Verjährung läuft, für außergericht-

liche Verhandlungen und zur Vorbereitung der Klage zur

Verfügung, da sie noch am letzten Tage der Frist die Ver-

jährung durch Klageerhebung oder eine gleichstehende Maß-

nahme (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 n.F. ZPO) unterbrechen kann.

Für die unbemittelte Partei führt dagegen die Verpflichtung,

im Armenrechtsgesuch eine vollständige Sachdarstellung zu

geben (BGH, Urt. v. 27. 11. 1959 - VI ZR 112/59, LM BGB § 203

Nr. 6) und das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen,

daß darüber innerhalb der Verjährungsfrist entschieden

werden kann, zu einer Verkürzung dieser Frist. Ebenso

schwerwiegend wie dieser Nachteil ist die Unsicherheit,

mit der die arme Partei belastet wird. Dies gilt zu-

nächst für die Pflicht, das Armenrecht so rechtzeitig

zu beantragen, daß wirklich vor Ablauf der Verjährung

darüber entschieden werden kann (BGHZ 17, 199, 202).

Damit wird von der armen Partei eine Prognose verlangt,

die sie nicht zuverlässig stellen kann, weil sie nicht

alle Umstände kennt, die den Gang des Verfahrens beein-

flussen werden. Die unbemittelte Partei ist daher dem

Risiko ausgesetzt, nachträglich gesagt zu bekommen, sie

habe das Armenrechtsgesuch nicht „rechtzeitig" eingereicht.

Von Unsicherheit geprägt ist auch die Bestimmung des Zeit-

punkts für den Beginn der Hemmung. Nach der hierfür ver-

wendeten Formel tritt die Hemmung der Verjährung in dem

Augenblick ein, in dem der Kläger bei sachgemäßer Be-

handlung eine Entscheidung über sein Armenrechtsgesuch

erwarten konnte (BGHZ 17, 202; 37, 113, 122). Der Beginn

der Verjährungshemmung und damit auch ihre Dauer hängen

danach von dem unbestimmten, verschiedener Deutung zugäng-

lichen Begriff der "sachgemäßen" Behandlung des Armenrechts-

verfahrens ab. Da0 darin für die arme Partei eine Risiko

liegt, sich hinsichtlich der Dauer der Hemmung der Ver-

jährung zu "verrechnen", liegt auf der Hand. Die darge-

legten Umstände bedeuten für die arme Partei eine unver-

hältnismäßige Erschwerung der Rechtsverfolgung im Vergleich

zu der bemittelten. Darauf, daß die Belange der um das

Armenrecht nachsuchenden Partei durch die Zustellung eines

Mahnbescheids oder die Anbringung eines Gütevertrags nicht

hinreichend gewahrt sind, hat bereits das Reichsgericht

(RGZ 163, 9) hingewiesen. Bei einer am Gerechtigkeits-

gedanken orientierten Betrachtungsweise erscheint die

weitgehende Angleichung der Stellung der armen an die

der vermögenden Partei nur durch eine Regelung gewähr-

leistet, die es ersterer erlaubt, die Verjährungsfrist

in vollem Umfange zu nutzen (vgl.. auch BGHm Urt v.

4. 3. 77 -V ZR 236/75, VersR 1977, 665 u. Kollhoser,

VersR 1974, 829 zu der ähnlichen Problematik bei § 12

Abs. 3 VVG). Deshalb ist nach Auffassung des Senats

bei verfassungskonformer Anwendung des § 203 Abs. 2 BGB

eine Partei durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung

verhindert, wenn sie am Tage des Ablaufs der Verjährungs-

frist infolge Armut keine Klage erheben kann, aber spätestens

in diesem Zeitpunkt das zur Behebung des Hindernisses not-

wendige Armenrechtsverfahren durch ein ordnungsgemäß be-

gründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch eingeleitet

hat. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann tritt die Hemmung

der Verjährung ein, und sie dauert grundsätzlich fort, bis

die arme Partei nach der Entscheidung über das Armenrechts-

gesuch bei angemessener Sachbehandlung in der Lage ist,

ordnungsgemäß Klage zu erheben. Eine solche Regelung wider-

spricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes.

Sie belastet auch nicht den Schuldner der unbemittelten

Partei in unangemessener Weise. Die dadurch in der Regel

eintretende Verlängerung der Verjährungsfrist hält sich

in vertretbarem Rahmen, und der Schuldner erfährt zur

gleichen Zeit wie bei Klageerhebung von der beabsichtigten

Rechtsverfolgung und kann sich darauf einstellen.

Für den vorliegenden Fall folgt daraus, daß die mit

der Klage geltend gemachte Schadensersatzforderung nicht

verjährt ist. Das Armenrechtsgesuch ist, da es am letzten

Tage der Verjährungsfrist dem Gericht vorlag, rechtzeitig

gestellt. Dem Kläger - der seine Armut glaubhaft gemacht

hatte - sind auch im weiteren Verlauf des Armenrechtsver-

fahrens keine Umstände, die eine Verzögerung der Armen-

rechtsentscheidung nach sich gezogen haben, als Verschulden


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mit der Folge anzurechnen, daß von höherer Gewalt im

Sinne von § 203 Abs. 2 BGB nicht mehr gesprochen werden

könnte. Der Kläger wurde durch Verfügung des Vorsitzenden

der Zivilkammer 6 des Landgerichts Hamburg, die am

7. April 1975 an die Rechtsanwälte abgesandt worden ist,

aufgefordert, ein Armen-Attest neueren Datums vorzulegen.

Dem ist er nachgekommen, indem er am 5. Mai 1975 ein

weiteres Zeugnis zur Erlangungen einstweiliger Kosten-

befreiung eingereicht hat. Darauf, ob dieser Erledigungs-

zeitraum angemessen war, kommt es nicht an. Die Verzögerung

der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch hätte selbst

dann nicht auf diesem Vorgang beruht, wenn das Armuts-

zeugnis etwas früher hätte vorgelegt werden können. Das

Landgericht hatte nämlich in der gleichen Verfügung die

Beklagte aufgefordert zu erklären, ob sie Verweisung an

die Kammer für Handelssachen beantragen wolle. Der Ent-

sprechende Antrag ist am 29. April 1975 beim Landgericht

eingegangen. Die Zivilkammer hat daraufhin durch Beschluß

vom 23. Mai 1975 das Verfahren an die Kammer für Handels-

sachen abgegeben. Zu dieser Zeit aber hat das neue Armuts-

zeugnis des Klägers vorgelegen. Der Umstand, daß der Kläger

nicht sogleich beim Landgericht Lübeck beantragt hat, das

Verfahren an die Kammer für Handelssachen des Landgerichts

Hamburg abzugeben, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen.

Nach § 96 Abs. 1 GVG ist der Kläger nicht verpflichtet

zu beantragen, daß der Rechtsstreit vor der Kammer für

Handelssachen verhandelt werden solle.

Schließlich ist die Klage auch rechtzeitig nach Ab-

schluß des Armenrechtsverfahrens erhoben worden. Das Armen-

recht wurde dem Kläger durch Beschluß des Berufungsgerichts

vom 18. August 1975 endgültig versagt. Eine Ausfertigung

dieses Beschlusses ging am 21. August 1975 an die

Anwälte des Klägers ab. Mit Schriftsatz vom 1. Septem-

ber 1975, der bei Gericht am 2. September eingegangen

ist, hat der Kläger Klage erhoben. Diese ist am

4. September 1975 zugestellt worden. Der Kläger hat

also spätestens zwei Wochen, nachdem er von dem nega-

tiven Ausgang des Armenrechtsverfahrens Kenntnis erlangt

hatte, die Klage eingereicht. In Anwendung des Rechts-

gedankens von § 234 Abs. 1 ZPO ist der Partei nach

Kenntnis vom Abschluß des Armenrechtsverfahrens eben-

falls eine zumindest zweiwöchige Frist zur Vorbereitung

der Klage zuzubilligen. Ob diese im Einzelfall über-

schritten werden darf, braucht hier nicht entschieden

zu werden.

Aus all dem folgt, daß die Verjährung des Schadens-

ersatzanspruchs des Klägers bis zur Erhebung der Klage

gehemmt war. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen

Urteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.

Ein Grund zur Vorlage dieser Sache an den Großen

Senat für Zivilsachen bestand nicht. Der III. und der

Vl. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes haben auf Anfrage

erklärt, daß sie an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung

nicht mehr festhalten.


S. Dr. S. F. Dr. B. B.


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